Eine ganz normale Familiengeschichte

Feb. 1, 2025Persönliches

Der Nachlass einer verstorbenen Verwandten brachte mich letztes Jahr unvermutet auf eine familiäre Spurensuche. Wir fanden zahlreiche Briefe ihres Onkels mit einer Absende-Adresse in Argentinien. Wow – hatten wir vielleicht sogar Verwandte in Lateinamerika? 

Viel war nicht herauszufinden über den Bildhauer, der Anfang des 20. Jahrhunderts von der Steiermark nach Wien, von dort nach Deutschland und dann in den 30er Jahren mit seiner Frau nach Argentinien ausgewandert war. Waren es wirtschaftliche Gründe, die ihn dazu veranlasst hatten? Oder politische? Man weiß es nicht. Wenige Spuren hat er hinterlassen: Ein paar Zeugnisse, ein Auftragsbuch, ein von ihm gestaltetes Denkmal in Thüringen, sein Name auf der Passagierliste eines Übersee-Dampfers, Skulpturen auf einer Hausfassade in Buenos Aires, zahlreiche Briefe. Und schließlich die Erkenntnis, dass er – ohne Nachkommen – kurz vor seinem Tod nach Österreich zurückkam. Tja, aus der Traum von familiären Verbindungen nach Argentinien…

Gewundert hätte es uns nicht, war doch dieser Familienzweig sehr reisefreudig gewesen: Der Halbbruder nach Kanada und dann die USA emigriert, die Halbschwester nach Deutschland. Und auch der Blick in die Dokumente und Aufzeichnungen einiger Generationen davor erlaubte spannende Einblicke in eine – typisch österreichische? – Familiengeschichte: Verschiedenste Heimatrechts-Scheine für Übersiedelungen innerhalb der Monarchie, Vorfahren aus Tschechien (die Dokumente ursprünglich auf tschechisch, in den 40er Jahren auf Deutsch übersetzt…) und sogar aus Russland. Geburtsort: Odessa, Geburtsort: Sankt Petersburg konnte man da lesen. Ich war total fasziniert. 

Und gleichzeitig kamen Gedanken auf, wie freiwillig ihre Wanderungen waren und wie sie vor Ort empfangen worden waren. Ob sie sich wohl auch anhören mussten: „Geht doch wieder dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid!“ Oder: „Der Krieg ist ja jetzt vorbei, ihr könnt jederzeit wieder heim, worauf wartet ihr noch?“ Ob eine, die ein Zarenreich verlassen hat, dann gern in eine Sowjetunion zurückgekehrt wäre? Ich weiß es nicht, und es ist auch niemand mehr da, den ich fragen könnte. Auch die vielen Motive, die zu den Ortswechseln geführt haben, werde ich nie erfahren.

Was diese Spurensuche aber zeigt: In jeder Familie gibt es Geschichten vom Kommen und vom Gehen, vom Aufbrechen und vom Rückkehren, vom Vorgehen und Nachfolgen, vom Einheiraten und Wegheiraten. Denn Migration ist so alt wie die Menschheit selbst. 

Dieser Text erschien als „Vielfaltskolumne“ in der Salzburger Straßenzeitung Apropos im Februar 2025.
Foto von Miray Bostancı: https://www.pexels.com/de-de/foto/alte-fotos-in-einer-braunen-box-3234896/ 

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