Mein Gott sei Dank nie geschriebener Artikel

Jun 6, 2023Persönliches0 Kommentare

In meinem früheren Job hatte ich einen beruflichen Kontakt, nennen wir ihn einfach Tim. Ich traf Tim immer wieder mal bei Konferenzen, doch irgendwann verloren wir uns aus den Augen. Auf Facebook waren wir aber vernetzt, und eines Tages kam ein sehr persönliches Posting auf Tims Profil: Hallo, ich bin jetzt Tina. Endlich.

Und Tina erklärte, warum sie sich die letzten Jahre zurückgezogen hatte. Warum sie Angst hatte, dass die vielen, kleinen Schritte, die sie zu ihrem ICH führten, auf Ablehnung stoßen würden. Dass es für sie nicht – wie in den Medien oft dargestellt – eine Lifestyle- oder Mode-Entscheidung war, ihren Körper ihrem tatsächlichen Geschlecht anzupassen. Sondern dass sie jahrelang mit ihrem „inneren Feuer und Eis“ gekämpft hatte und ihr Geheimnis um jeden Preis verbergen wollte. Doch damit war jetzt Schluss. Nun war sie Tina, endlich auch offiziell. Und sie ersuchte ihr Umfeld, ihre Kontaktdaten zu ändern und sie nur mehr mit ihrem richtigen Namen anzusprechen – als Frau.

Tina erhielt jede Menge positive und bewundernde Rückmeldungen – so auch von mir. In ihrer Antwort schrieb sie mir von dem nervenaufreibenden Doppelleben, das sie geführt hatte, um ja nicht aufzufallen. Wie froh sie war, dass das nun vorbei war: „Nie mehr auf Raststätten umziehen, in dunklen Parkhäusern auf- und abschminken, zu Hause alles verstecken, aufpassen, dass Postsendungen nicht auffliegen, überlegen, wer was (nicht) weiß, jederzeit damit rechnen, dass irgendwo durch eine Kleinigkeit doch was auffliegt.“

Diese Beschreibungen lösten bei mir, damals in PR und Marketing tätig, aufregende Assoziationen mit 007 und Agententhrillern aus. Wow, wie spannend! Das wäre doch einmal eine tolle journalistische Geschichte! So packend und greifbar! Und ich schrieb Tina, dass man das ja super medial aufbereiten könnte, so auf das Motto „Was James Bond mit Transgender gemeinsam hat“, und was sie davon hielte. Es folgte – Funkstille.

Gott sei Dank, denn Tinas Geschichte mit meinen Bildern im Kopf wäre in eine komplett falsche Richtung gegangen. Und alle Menschen, die sie gelesen hätten, hätte ich auf eine Reise in meine Gedankenwelt mitgenommen – aber nicht in Tinas Welt und die Realität jener Menschen, die tagein tagaus vor diesen Entscheidungen stehen und sich die Frage stellen, wie wohl ihr Umfeld auf ihr Coming-out reagieren wird.

Heute bin ich froh über Tinas Funkstille. Und nehme Möglichkeiten wahr, mich von Menschen wie Tina in ihre Lebenswelt mitnehmen und meine Bilder möglichst draußen zu lassen. Damit sie ihre Geschichten selber erzählen und nicht Figuren in meinen Geschichten sind – oder wir zumindest gemeinsame Geschichten schreiben.

Dieser Text erschien als „Vielfaltskolumne“ in der Salzburger Straßenzeitung Apropos im Juni 2023.

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